Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

4. Textimmanente Märchentheorie

Nachdem in der Rahmenhandlung noch kurz über Kausalität bezüglich des Stehenbleibens der Uhr beim Brand gesprochen wurde, lässt Goethe Karl unvermittelt den Alten fragen: "Wissen Sie nicht [...] uns irgend ein Märchen zu erzählen?"[27]
Die Erklärung für diesen Wunsch lässt Karl ungefragt folgen und hebt die Unterhaltung durch seine folgende Aussage auf das Niveau einer Reflexion über den Gattungsbegriff "Märchen".

"Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen; nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die lustigen Gestalten, die sie erschaffen, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen; verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdingen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt."[28]

Karls Anmerkungen zur Märchentheorie stehen in großer Ähnlichkeit zur Position der Baronesse, die literarische Zerstreuung wünscht und jeden tagesaktuellen Streit unterbindet. Auch Goethe stellt in seinem Gesamtkonzept die Geselligkeit der Gruppe in den Vordergrund, nicht aber ihr politisches Schicksal. In welcher Art urdeutscher Gemütlichkeit die Flüchlingsgruppe versucht sich einzurichten, konterkariert die Umstände ihres Zusammentreffens und ihrer Flucht.
Im Decamerone von Boccacio wird die Pest erst spät als eine hinter dem Erzählstrang stehende Naturkatastrophe deutlich. Auch bei Goethe haben die Schilderungen von Revolution und Gegenrevolution einen naturkatastrophalen Charakter. Es scheint der Reisegruppe ein fernes Unglück passiert, das historisch ab und zu vorkomme und das nun nicht mehr zu ändern sei. Aus diesem Denken speist sich der Wunsch nach Gesellig- und Gemütlichkeit.
Die Anmerkungen Karls birgen aber auch eine Prophetie, die diese Schwinwelt zerstören wird. Wenn das Märchen in Verbindung mit der Wahrheit Ungeheuer hervorbringt, dann ist damit die ungeheuerliche Realität des Märchen vorgezeichnet. Goethes Erfahrungen mit den Greueln und Flüchtlingsdramen der Revolution und Gegenrevolution decken sich nicht mit der Beschaulichkeit der Unterhaltungen. Die Reisegruppe wird durch Das Märchen aus dem Schlaf gerissen und über den Umweg des Wunderbaren wieder auf den Boden der Tatsachen gestellt.
Der Alte, bereits von langer Hand als Goethes alter ego eingeführt, widerspricht Karl und legt seine Gedanken zur Gattung "Märchen" offen.

"Fahren sie nicht fort [...], Ihre Anforderungen an ein Produkt der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen; denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß warten, was ihr geschenkt wird. Sie macht keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden."[29]

Dass der Alte dann auf einem Spaziergang "die sonderbaren Bilder wieder in meiner Seele lebendig werden" lassen will, die ihn "in frühern Jahren oft unterhielten"[30], klingt schon wie Märchensprache. Das Erinnern, im Märchen oft als Traum, und die Veränderung der Welt im Schlaf wird hier als bewusstes im Gedächtnis kramen gesucht. Das es die sonderbaren Bilder früherer (Lebens-) Zeiten, evtl. der im Märchen so bedeutungsschwangeren Adoleszens, sind, die hier in stiller Begegnung mit der Natur (= Spaziergang), bringt eine weitere Erklärung in den Bereich des Märchenhaften und Mythischen.
Gleich wie Heinrich Heines später in seinen Drei und Dreissig Gedichten die Loreley beginnen lässt

"Ich weiß nicht, was soll das bedeuten
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn"[31]


so geschieht mit dem Protagonisten etwas, was er sich selbst nicht erklären kann.
Bilder werdern in die Wahrnehumg projeziert, die dem Wahrnehmenden Rätsel aufgeben. Auf sich selbst zu achten und durch das Annehmen und Reflektieren dieser Rätsel sich selbst etwas näher zu kommen ist unverkennbar das Programm der Romantik die dadurch die Aufklärung, indem all diese Dinge als Unsinn gebrandmarkt wurden, kompensiert.
Der Alte verpricht für den Abend ein Märchen, "durch das Sie sich an nichts und an alles erinnerte werden sollen." Die Bezugspunkte in Raum und Zeit werden also ins Unendliche vergrössert und geben dem Märchen seinen Anspruch: Universalität ist die Sprach- und Kulturgrenzen überschreitende Märchenformel.

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[27] Goethe: Unterhaltungen, S. 88.

[28] Ebd., S. 88f.

[29] Ebd., S. 89.

[30] Ebd.

[31] Heine, Heinrich: Gedichte und Verse, Limassol 1998. S. 9.
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