Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

5.1. Frühe Interpretation dreier Freunde

"Das Mährchen welches die Unterhaltungen der Ausgewanderten schloß, ladet zu Deutungen ein, indem es Bilder, Ideen und Begriffe durcheinander schlingt."[32]
Es schreibt der Autor über sein Werk. Im Juni 1816 fertigt Goethe eine Tabelle mit drei Deutungen von Freunden bezüglich des Märchens an. Diese versuchen die Symbole im Text mit Begrifflichkeiten aufzufüllen, die wieder auf das große Ganze des Lebens abzielen und damit allegorisch bleiben. So steht als Deutung für den Fluß "Die Noth, die Verlegenheit, [allgem.:] jede schwierige Aufgabe", "Das Fließende des Lebens" und "Die Hindernisse des Lebens" zur Verfügung und nichts wird dadurch gedeutet, nichts wird deutlicher.
Die Schlange übersetzen die drei Freunde, von denen eine als Charlotte von Kalb identifiziert werden kann, als "Industrie und Speculationsgeist. Die Nachahmnung. Der Verstand überhaupt", "Die Cultur" und "Das Volk". Jede einzelne dieser Deutungen würde, auch wenn sie absolut zutrifft, wieder erklärungsbedürftig sein.
Vor allem in der Interaktion der Figuren schaffen diese Ansätze nur Verwirrung. Wenn der Jüngling als "Die Leidenschaft", "Die Menschheit" oder "Die Menschlichkeit"; der Riese als "Die öffentliche Meinung. Das Vorurtheil. Das Gesetz", "Der Wahn" oder "Der Schlendrian"; die Lilie als „Die Caprice.
Die Phantasterey”, „Die Wahrheit. Die Grazien” oder „Die Weiblichkeit” und der Tempel als „Der Genuß und die Ruhe als der letzte Zweck des Lebens”, „Die Vernunft” oder „Die Vereinigung aller Kräfte” gedeutet werden[33], so passt nichts davon zueinander.
Bis auf die heutige Zeit bleiben fast alle Deutungen des Märchens allegorisch. Wenn eine Symbolik wie zum Beispiel die Schlange mit Universalbegriffen wie Kultur oder Volk aufgeladen werden, so ist dadurch noch nichts erklärt.
Möglich ist bei der Schlange auch eine biblische Auslegung als Büßerin, wenn sie denn das einfache Volk Frankreichs und Deutschlands repräsentieren soll. Wie Gott nach dem Sündenfall die Schlange als Verursacherin in Kollektivhaftung für die Verfehlung nahm und alle ihre Nachkommen zur Strafe im Dreck kriechen lässt, so sind die einfachen Leute in beiden Staaten genau diejenigen, die Revolution und Gegenrevolution nicht angezettelt[34] haben, aber die schrecklichen Folgen tagtäglich am eigenen Leib erfahren müssen.

[32] Goethe, 24. Juni 1816. Zitiert nach Goethe-Jb 25 (1904), S. 37.

[33] Wahle, Julius: Auslegungen des Märchens, in: Goethe-Jahrbuch 25 (1904), S. 37-44. Hier: 37f.

[34] Vom Sturm auf die Bastille bis zur Jakobinerherrschaft wurde der 3. Stand zwar partiell an politischen Umbrüchen beteiligt, die Ideen für Revolution und Gegenrevolution entstanden jedoch jeweils in intellektuellen Kreisen.
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