Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

3.3. Die politische Interpretation

Versteht man die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als eine Komposition, deren Rahmenhandlung als geselliges Flüchtlingsdrama unmittelbar eine Folge der Französischen Revolution und anschliessender Expansion ist, so stellt sich die Frage, warum am Ende nicht wieder auf die Rahmenhandlung Bezug genommen wird.
Der Theorie von einer übers bürgerliche ins überbürgerliche und symbolische sich steigernden Komposition müsste als These hinzugefügt werden, um zu verstehen, dass Goethe am Ende der Unterhaltungen sehr wohl wieder auf die Französische Revolution und ihre Folgen eingeht. Die am Anfang der Unterhaltungen explizit geschilderte Flucht vom linken Rheinufer in Folge der französischen Expansion hat sich nur oberflächlich als Thematik verabschiedet. Zwar duldet die Baronesse in der Rahmenhandlung keinen politischen Disput und auch Schiller möchte ihn auf der Realitätsebene nicht in seinen Horen ausgetragen haben, das Politische kehrt durch die Hintertür aber wieder auf die Bühne zurück.
"Goethes Antipathie gegen die Politik ist oft und kritisch behandelt worden."[21] Dabei wurde allzu oft aus seiner Einstellung gegebenüber tagesaktuellen Problemen und Schwierigkeiten auf einen Gesamtkomplex geschlossen, der die Politik sein soll.
Goethes Trennung in Politik und Privates ist willkürlich. Sein Gegensatzpaar von der ungeliebten Politik und der angestrebten Geselligkeit ist nicht mehr aufrecht zuhalten. Politik ist alles, zumindest aber die „Regelung öffentlicher Angelegenheiten im Staat und zwischen Staaten”[22]. Und zu diesen Dingen hat Goethe eine Meinung, ist also nicht unpolitisch.
Aufgrund von Kinheitserfahrungen ist Goethe die zänkische Streiterei um unauflösliche politische Gegensätze zu wieder: Sein Vater war Vertreter Preußen, während sein Großvater mütterlicherseits für Österreich Partei ergriff, was zu ständigen Streitereien führte.[23]
Allerdings wird Goethe dadurch nicht apolitisch, sondern versucht auf einer höheren, ästhetischen Ebene Lösungen für die Probleme seine Zeit zu proklamieren. Diese Lösungen sind oft gesellige Utopien, wie im Märchen, dadurch aber nicht weniger politische Statements. Nach neueren Begrifflichkeiten könnte man ihn daher als "Fundi" bezeichnen, der Wege im Einklang mit den anthroprosophischen Grundkonstanten anstrebt. Dass Goethe kein "Realo" war, gerade die realpolitische Ebene findet - zumindest in seiner literarischen Tätigkeit - nicht statt, macht ihn nicht zum unpolitischen Menschen.
Gerade als Utopist versucht er Geselligkeit als Antwort auf Politik zu formulieren.
Für Paul Pochhammer wie für viele andere Interpreten ergibt sich aber genau aus diesem Umstand: "Politisch im engeren Sinne ist trotzdem das Märchen nicht!"[24] Gemeint ist die weltanschauliche, übers kleinteilig-politsche hinausgehende, Art der Erzählung, die bestenfalls als Utopie anerkannt wird. Genau hier setzt eine neue Bedeutung des Begriffes Politik ein. Politisch ist in heutiger Zeit nicht mehr nur der Beamtenstatus und der von ihm ausgeübte Bürokratismus. Eine neue Verbindung zum Gesellschaftlichen erweitert die Sphäre dessen, was als politisch bezeichnet werden kann. Am Beginn des 21. Jahrhunderts wird versucht die großen semantischen Kontexte von Ideologien, Kulturen und Religionen politisch zu ordnen. Die Großteiligkeit des Politischen umfasst auch die Utopie als Möglichkeit einer angestrebten Verbesserung der Lebensumstände der Menschen.
Pochhamer übernimmt sogar viele Deutungen, die sowohl in Goethes wie auch in seiner Zeit (1904) als politisch gegolten haben. So entschleiere Schiller, dessen gesamte Interpretation leider verloren ging, den Riesen als Frankreich. Revolution und Gegenrevolution würden dem Leser gleich dreimal vor Augen geführt: „1. Der Fluß war kürzlich aus seinen Ufern getreten: 1793. 2. Der Geist der französischen Masse ist der an sich ohnmächtige Riese [...]. 3. Ludwig XVI., auch nur soweit gekennzeichnet im gemischten Könige, um jedes Staatsgefüge zu versinnbildlichen.”[25]
Das Märchen kann also nur von dem einem Stoff handeln, der Goethe und seine Zeitgenossen interessierte. Es geht um den einen grossen Fluss, alles andere ist in diesem Moment (politisch) uninteressant. Tatsächlich ist der Rhein auch zu dieser Zeit der längste (umgangssprachlich deswegen = grösster) Fluss der deutschen Gebiete und sowohl Namensgeber als auch Lebensader der rechts- und linksrheinischen Gebiete. Der Fluß, der bereits für die Römer auch eine kulturelle Grenze darstellte, die Caesar 55 v.Chr. erstmals in Richtung Germanien überschritt, lieferte mit den Siedlungen und Lagern an seinen Ufern auch wichtige Bezugspunkte für die Zivilisierung Deutschlands. Vom 17.-20. Jahrhundert immer wieder als Kriegsschauplatz im Mittelpunkt der Geschichte (eine ähnliche Bedeutung wie Oder und Neiße im 20. Jahrhundert) wird die Freiheit der Schiffahrt auf dem Rhein durch den Wiener Kongress 1815 völkerrechtlich festgelegt. Ganz im Sinne Goethes, des Weltbürgers und überzeugten Europäers, ist der Rhein also seit spätestens seiner Zeit als europäischer Fluß definiert.[26]
Wenn Goethe also an dem grossen Fluss die Geschehnisse des einen Märchen geschehen lässt, dann geht es um nicht weniger als die ganz grossen Linien und Fragen seines Heimatlandes. Die Geschichte und das Schicksal verengen sich – aufgrund ihres inflationären Gebrauches in der deutschen Geschichte möchte man sagen: wieder einmal – zu der deutschen Frage.

[21] Albertsen: Nachwort, S. 144.

[22] Bünting, Karl-Dieter u. Ader, Dorothea: Fremwörter-Lexikon, Chur (CH) 1991, S. 171.

[23] Vgl. Albertsen, Nachwort, S. 144.

[24] Pochhammer, Paul: Goethes Märchen, in: Goethe-Jahrbuch 25 (1904), S. 116-127. Hier: S. 121.

[25] Pochhammer, S. 120f.

[26] Vgl. zur Geschichte des Rheins: Geiss, Immanuel: Geschichte griffbereit, Bd. 3: Schauplätze, München, Gütersloh 2002, Art.: Rhein, S. 159; Tümmers, H.J.: Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, München 1994.
Webkataloge