Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

5.2. Die religiös-mystische Deutung - dicht an der Wahrheit?

Eine leidenschaftlich-apokalyptische Interpretation liefert Prinz August von Gotha kurz nach dem Erscheinen des Märchens. Goethe findet es in einem Brief an Schiller prächtig, dass sich der junge Prinz "in den mystsichen Sinn des Märchens so recht verbissen hat"[35]. Beide kennen Prinz August und sein Temperament aus Diskussionen und Korrespondenzen und doch scheint er hier einige Dinge bezüglich des Märchens richtig gedeutet zu haben.
Die religiös-mystische, auch noch die apokalyptisch erhöhte, Auslegung kommt der politischen Bedeutung näher als rein allegorische Untersuchungen. Wenn der Prinz also in einen Johannes-Wahn verfällt, so ist das natürlich maßlos übertrieben, aber er traut sich die Fähigkeit zur Übertragung des Märchens-Codes zu. Im Gegensatz dazu beschäftigen Allegorien sich nur mit der Projektionsfläche und trauen sich den gewagten und immer mit Fehlern behafteten Schritt der Übertragung nicht zu.
Prinz August scheint in seiner Interpretation einige Punkte angesprochen zu haben, die Goethe lieber eine Zeit lang verschlüsselt lassen wollte.
So interpretiert er, dass Gold als Weisheit, Silber als Schein und Erz als Macht oder Gewalt zu gelten haben. Dazu zitiert er den 1. Brief des Johannes 5,8: "Drey sind die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt --- Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet - und das ist mehr"[36]. Nach dem Zitat des Johannesbriefes nimmt die Interpretation eine religiös-mystische Wendung. So kann der Prinz nicht anders als "den unbekannten Verfasser des angeführten Aufsatzes in den Horen für den Jünger und Evangelisten Johannes zu halten [...]. Johannes ist gefunden, er ist nicht gestorben, er lebt noch mitten unter uns. [U]nd ich kann es dem Buchdrucker nicht wohl verzeihen, daß er sich unterfangen habe, das Wort: Mährchen hin zu setzen, wo Offenbarung oder gar kein Titel, als Fortsetzung, u.s.w. hingehörte."[37]
Von diesem Standpunkt aus deutet August von Gotha Das Märchen in großer Unbekümmertheit und naivität und gibt daher auch dem politsch Offensichtlichem Raum.
Er fragt, "aber wer ist der junge König? wer ist die schöne Lilie? (doch wohl nicht die französische?) [...] wer sind die beyden Irrlichter (doch wohl keine Jakobiner?)"[38].
Goethe konnte die direkte Enttarnung seines verschlüsselten politischen Personals nicht gefallen. In einer politsch aufgeregten Zeit sollte sein Werk Literatur sein und kein öffentlich ausgetragener Disput über Pro und Contra der Französischen Revolution. Schlißlich gab es im ganzen Land und vor allem in Weimar viele offene und noch viel mehr versteckte Sympathisanten. Goethe, der Reformen von unten nach oben nicht akzeptieren konnte, musste sich einer politischen Diskussion entziehen, um weiter literarisch unabhängig zu bleiben. Auch hätte ein Bruch mit Schiller, dessen Gebot des Unpolitischen Goethe grob mißachtete, die Folge sein können.
Deshalb entschließt Goethe sich im Antwortbrief an den Prinzen, seine eigene Auslegung nicht eher vorzulegen, als bis er 99 Vorgänger vor sich sehen werde.[39]

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[35] Goethe-Jb 25 (1904), S. 41.

[36] 1. Brief des Johannes 5,8. Nach Goethe-Jb 25 (1904), S. 41, weil neuere Übersetzungen dieser Bibelstelle einen völlig anderen Sinn ergeben.

[37] Goethe-Jb 25 (1904), S. 40ff. Hervorhebungen im Original.

[38] Ebd., S. 42.

[39] Vgl. Ebd., S. 43.
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