Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

3.2. Die gattungsspezifische Interpretation

Astrid Eisbrenner beschreibt in ihrer Dissertation[16] die gewählte Singularität in Titel und Beginn als gattungsimmanent für das neue Genre Märchen. Demnach sei Das Märchen eben nie irgendein Märchen, „sondern ein bestimmtes, das der Leser glaubt kennen zu müssen, weil der bestimmte Artikel immer schon die Kenntnis des Gegenstandes voraussetzt.”[17] Dieser Ansatz deckt sich mit der textimmanenten Märchentheorie: Der Alte will ein Märchen erzählen, „durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen”[18].
Die scheinbar zeitlose Popularität von Märchen kann durch die Bekanntheit des Stoffes und seiner Lebensweltlichkeit in wunderbarer Verkleidung beschrieben werden. Gerade die unangenehmen Themen wie Tod, Mißbrauch, Pupertäts- und Adoleszenzkrisen können den Lesern durch die scheinbar unverfängliche Gattung nähergebracht werden.
All dieses Menschliche, allzu Menschliche kommt in der Märchensprache und im Bereich des Wunderbaren unter, so dass der Leser zunächst eine beruhigende Mauer um sich aufbauen kann, in dem Glauben, das diese Dinge nichts mit ihm persönlich zu tun hätten.
Natürlich haben sie viel mit der Lebenswelt des Lesers zu tun. Und die Universalität des bestimmten Artikels (als Kontrapunkt zur Singularität) macht anthroprosophische Grundmuster und -ängste deutlich.
Das Märchen ist nach dieser Übersetzung die Geschichte, die jedem passieren kann (was ich als personale Universalität bezeichnen möchte); der große Fluß ist ein Ort, der überall sein kann (lokale Universalität) und der später so typische Märchenbeginn Es war einmal ein Ausdruck von Zeitlosigkeit (temporale Universalität).
Eisbrenner stützt aber auch ungewollt die politische Interpretation. „Es scheint nur den einen Fluß zu geben, oder aber der Leser kennt den bestimmten Fluß, den Goethe meint, was auch dasselbe sein kann.”[19]
Tatsächlich besteht ein großer Unterschied zwischen beiden Lesarten. Wenn es nämlich nur einen Fluß gibt, dann befinden wir uns in der absoluten Märchenwelt, weil die Erfahrung von nur einem existenten Fluß nicht der Realität entspricht. Geht es aber um einen bestimmten Fluß, der außer dem Attribut groß zu sein nicht weiter definiert wird, dann muss anhand von Alltags- und Weltwissen auf den betreffenden Ort geschlossen werden. Die Leerstelle der Lokalisierung wird dann historisch-geografisch geschlossen und damit hat der Leser eine Verbindung zur Realität, die alles folgende Geschehen von Königen, Völkern und Weltzeitaltern politisch deutbar macht.
Eisbrenner verweist des weiteren auf die Verbindung zur antiken Mythologie durch den Fluß und den Fährmann. Ebenso wie der Fährmann Charon die Toten, die eine Münze unter der Zunge haben, über den Fluß Styx in die Unterwelt geleite, so bringe der Fährmann im Märchen die Menschen gegen teilweise schwer zu errichtende Bezahlung über den Fluß der Trennung. Auch der Styx trennt zwei Welten, somit zwei semantische Räume, voneinander und stellt ein großes Hindernis da.[20]

Darlehensablösung Altersvorsorge Direktversicherung

[16] Eisbrenner, Astrid: Das Erscheinen des Schönen. Goethes Ästhetik des Lebendigen, Diss., Marburg 2002.

[17] Ebd., S. 18.

[18] Goethe, Johann Wolfgang von: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hrsg. von Albertsen, Leif Ludwig, Stuttgart 1991, S. 89. Vgl. auch Kapitel 4.0 dieser Arbeit.

[19] Eisbrenner, S. 18.

[20] Vgl. Ebd.
Webkataloge