Goethe

Goethe: "Das Märchen"
als politische Utopie

von Simon Hollendung

3.1. Die texttheoretische Interpretation

Die texttheoretische Interpretation bezieht sich auf Goethes Reflexionen über die Neueinführung von Textsorten, die später als Novelle (wie die anderen Teile der Unterhaltungen), bzw. als Märchen bezeichnet werden. Diese Interpretation ist von den Teilnehmern des 1b-Seminars[12] für die wahrscheinlichste befunden worden und benötigt als weitere Prämisse das Selbstverständnis des Autors.
Goethe war sich, gerade in den Jahren nach der Niederlegung aller anderen juristisch-politischen Ämter und seiner Italienreise, seiner Wirkung als der Dichter der Weimarer Klassik sehr wohl bewusst. Die von aussen an ihn heran getragenen Wertschätzungen verliehen ihm ein an Egozentrismus grenzendes Selbstbewusstsein.
Nach seiner Italienreise widmet Goethe sich verstärkt poetischen Formen der römischen Antike. Sein Umfeld reagiert mit Unverständnis, da die alten Stoffe nicht einfach nur nachgeahmt, sondern neu arrangiert werden. Goethe arbeitet, durch das Unverständnis seiner Umwelt gekränkt, an sehr unterschiedlichen neuen Textsorten weiter und beginnt diese deutlicher zu etikettieren:
Mit Wilhelm Meisters Lehrjahre entsteht die deutsche Form des Entwicklungs- , bzw. Bildungsromanes, in denen – zunächst nur dem Protagonisten – Entwicklungsräume jenseits von Schwarz-Weiß-Charakteren zugestanden wird. Die Unterhaltungen werden zur ersten Ansammlung von pointierten Erzählungen, die später Novellen getauft werden. Und schließlich das „nicht mehr nur rokokohafte und ironische, sondern in sich ruhende und eben dadurch tausend Deutungsversuche anregende symbolische Märchen”[13].
Auch dieses symbolische, in sich ruhende Märchen wurde von Goethes Zeitgenossen nicht verstanden, im Vergleich zu den anderen Neueinführungen aber wenigstens geliebt.
Boccacio und sein Decamerone vermitteln Goethes Blick auf die altrömische Tradition und damit in eine Zeit, in der Novelle und (Kunst-) Märchen noch als artverwandt angesehen wurden.[14]
Es geht um die pointierte Art, großartige Geschichten zu erzählen und Das Märchen tut dies im Wortsinne, weil es die ganz großen semantischen Räume des Symbolischen, des Utopischen, des Politischen und des Religiösen öffnet.
Dabei macht es die Trennung vom Volksmärchen deutlich: Das Märchen ist sowenig volkstümlich wie Goethe selber. Es hat keinen Vorläufer, bzw. Urtext, ist aber als durchkomponierte und arrangierte Symbolik als Märchen überdefiniert.
Goethes Sprache ist rhetorischer als die seiner Vorgänger und richtet sich eindeutig an Erwachsene. Die großen Themen des Autors, der Wunsch nach einer freieren Sexualität und Religion, sind klar erkennbar und nicht Teil des Symbolischen wie in anderen Märchen (Bsp. Zwerg Nase, Aschenputtel, Schneewitchen etc.).
Die Entwicklungskurve der Unterhaltungen, durch die zerstückelte Veröffentlichung in den Horen für die Zeitgenossen schwer zu erkennen, ist deutlich gezeichnet und trotzdem offen für Kommentare des Publikums. Dieser als gesellig bezeichnete Effekt ist Goethe sehr wichtig und ein wesentlicher Bestandteil verschiedener Interpretationen.

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[12] Gemeint ist das 1b-Seminar in Neuerer deutscher Literatur „Kunstmärchen der Romantik”, angeboten von Dr. Jans Hans im Wintersemester 2005/2006 an der Universität Hamburg, in dessen Rahmen diese Arbeit entstand.

[13] Albertsen, Leif Ludwig: Nachwort, in: Goethe, Johann Wolfgang von: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hrsg. von Albertsen, Leif Ludwig, Stuttgart 1991, S. 148.

[14] Vgl. Ebd.

[15] Vgl. Ebd, S. 137.
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